Emma und ihre Phantasie

Am Morgen nach dem aufregenden Martini-Rummel, sitzt die ganze Familie am Tisch und frühstückt. „Kannst du heute mit Emma den Tag verbringen?“ fragt Emma’s Mutter ihren Mann. „Ach ja, du wolltest ja die Adventskalender basteln. Also unternehmen wir am besten etwas.“ antwortet der Vater und schaut Emma dabei fröhlich an. „Können wir vielleicht zu Oma Hilde gehen?“ fragt Emma mit leuchtenden Augen. „Sie hat doch meine Laterne noch gar nicht gesehen. Vielleicht kann sie auch Bruno helfen. Ich möchte ihn auf jeden Fall auch mitnehmen.“ fügt sie noch an und springt dann auf.

Im Aufspringen greift sie nach mir gegriffen und zieht mich fix von der Bank. Dann läuft sie hüpfend in ihr Zimmer. Dort geht Emma zum Regal und holt ihren kleinen roten Rucksack mit den weißen Punkten und stellt ihn in die Mitte des Zimmers. Nun hüpft sie, mit mir in der Hand, auf ihr Bett und greift am Kopfende nach Bruno. Langsam klettert sie wieder vom Bett und steckt Bruno in den Rucksack. Für einen kurzen Augenblick treffen sich seine und meine Augen. Ich sehe seinen verwunderten Blick, kann ihm aber noch schnell zur Beruhigung zuzwinkern.

Nachdem Emma den Rucksack zugezogen und aufgesetzt hat, greift sie nach ihrer Laterne und geht sie zu ihrem Vater zurück. Er hilft ihr in die Schuhe und hält ihr den kleinen Mantel hin. „Mh, den Rucksack wirst du noch einmal kurz absetzen müssen. Er passt nicht mit dir zusammen unter den Mantel“ sagt er schmunzelnd. Die Mütze kann Emma sich aber schon alleine aufsetzen und den Schal um den Hals legen. Ihren Mantel lässt sie oben wieder ein Stückchen offen, so dass ich gut hinaussehen kann. Nun verabschieden sich noch von der Mutter und Tom und verlassen dann das Haus.

„Ob Oma Hilde überhaupt zu Hause ist?“ fragt Emma ihren Vater. „Bestimmt. Ich weiß zwar nicht, wie sie das immer macht, aber sie hat für so etwas einen sechsten Sinn.“ antwortet ihr Vater mit einem verschmitzten Lächeln. Und genauso ist es. Emma hat gerade auf die Türklingel gedrückt, da öffnet Hilde auch schon die Tür und sagt: „Ich habe euch schon erwartet. Kommt doch herein und legt eure Jacken ab.“ Nun führt Hilde die beiden durch die Eingangshalle in ein kleines gemütliches Zimmer mit Kamin. „Setzt euch doch hier zu mir an den Kamin. Eurer Kaffee und Kakao kommen gleich.“ fährt sie fort.

Emma wagt kein Wort zu sagen und setzen sich neben ihren Vater auf das Sofa in der Nähe des Kamins. Als nun noch die Heinzel-Möhren in das Zimmer treten und den Kaffee und den Kakao bringen, reibt sie sich beide Augen und drückt mich fest an sich. Hilde kann sich ein Lächeln nicht verkneifen und beobachtet Emma. „Ach herrje.“ entfährt es Emma’s Vater, „Sie sieht auch die kleinen Möhren – nicht wahr?“ Hilde nickt und sagt: „Ja, sie hat deine besondere Phantasie geerbt. Mir ist es schon auf der Halloween-Party aufgefallen.“ Emma’s Vater holt tief Luft und meint dann: „Wir müssen es ihr erklären, sonst werden sie alle für sonderbar halten.“ Hilde nickt.

Emma’s Vater nimmt Emma auf seinen Schoß. Sie drückt mich immer noch fest an sich, so dass ich fast keine Luft mehr bekomme. Dann sagt ihr Vater mit ruhiger Stimme: „Emma, dass was du hier siehst, können nur Menschen mit einer ganz besonderen Phantasie sehen.“ Emma nickt und sagt dann: „Aber Tom hat doch auch Phantasie, sonst hätte er doch meine Laterne nicht basteln können.“ „Deine Laterne ist übrigens sehr hübsch. Ich hoffe, sie bekommt einen Ehrenplatz in deinem Zimmer.“ sagt Hilde. „Ja“, sagt ihr Vater, um wieder zurück zur Erklärung zu kommen. Dann ergänzt er: „Aber seine Phantasie hat einen anderen Ursprung als deine. Seine Phantasie lässt sich von Zaubern unterschiedlichster Art beeinflussen und umlenken. Deine hingegen nicht. Deshalb siehst du die kleinen Heinzel-Möhren hier zum Beispiel.“

Emma holt einmal tief Luft und löst leicht ihre Umklammerung, so dass ich wieder besser Luft bekomme. Dann fragt sie: „Und was sieht Tom dann?“ „Er nimmt die Heinzel-Möhren entweder nicht wahr oder sieht einen Haushälter oder eine Haushälterin.“ antwortet Hilde. „Deshalb wirst du ihm und anderen Menschen ohne deine spezielle Phantasie auch nicht erklären können, was du siehst.“ Emma nickt. Sie hatte verstanden. „Dann ist es wohl besser, nicht mit anderen darüber zu sprechen – richtig?“ fragt sie dann. „Sonst geht es mir so wie Gustav. Er erzählt allen im Kindergarten von seinem unsichtbaren Freund. Mit ihm mag deshalb schon niemand mehr spielen.“ Emma’s Vater nickt.

„Kann ich meine Tasse Kakao haben?“ fragt Emma und klettert wieder neben ihren Vater auf das Sofa. Ihr Vater reicht ihr ihre Tasse und einen Keks. Dann nimmt er seine Tasse Kaffee in die Hand und beide Trinken einen großen Schluck und beißen dann in ihren Keks. Hilde muss über dieses Bild lachen. „Du und Emma, ihr seit schon zwei. Sie ist wie eine kleine Ausgabe von dir, mein Lieber.“

Fortsetzung folgt …